Es war der Sommer des Jahres 1974, und es war ein Sommer der Liebe; der unerfüllten Liebe, um genau zu sein - oder noch genauer: der unerfülltesten Liebe aller Zeiten. So jedenfalls kam mir das vor, als ich pickelige vierzehn war und außer den üblichen Flausen nur Die Eine im Kopf hatte. Sie hieß Ursel, hatte langes blondes Haar und ihre sonnengebronzte Haut ward nur und knapp von einem türkisfarbenen Bikini bedeckt, als ich sie das erste Mal sah am Strand von Cuxhaven-Döse. Eben da mußte ich in diesem Sommer mit meinen Eltern einen zweiwöchigen Urlaub verbringen, den wir überwiegend am Nordseestrand verlebten, auf der Grasnarbe unterhalb der Deichkrone, wo unser Stammliegeplatz war. Während meine Eltern regelmäßig in die Nordsee sprangen oder, wenn die Nordsee gerade mal wieder nicht da war, zu ausgedehnten Wanderungen ins Watt aufbrachen, verlegte ich mich darauf, oberkörpernackt in der Sonne zu liegen, mit einem tröstenden Buch im Anschlag ("Unterwegs" von Jack Kerouac) und einem Kassettenspieler im schettrigen Batteriebetrieb, auf dem ich ohne Ende den Winsel-Sound der Gruppe Caravan hörte: The Land of Grey and Pink. Eine aktive Teilnahme am üblichen Strandleben verbot sich mir als potentiellem Beatnik, für den ich mich damals hielt. Auch Badengehen lehnte ich ab, weil ich dafür meine Beatnik-Jeans mit dem eigenhändig aufgestickten Kreuz drauf hätte ausziehen müssen. Auch das von meiner Schwester gehäkelte Joe-Zawinul-Käppi nahm ich nur ungern vom immerhin halbwegs lang behaarten Kopf. Und wenn es nicht zu heiß gewesen wäre, hätte ich mich nicht mal meines nesselstoffflatterhaften, rankenbestickten Indienshirts entledigt, das ich in dieser hippiesken Phase meines Lebens ständig trug. Dazu an den Füßen so klappernde Riemenlatschen und über die Schulter ein griechisches Hirtentäschlein gehängt, darin ich neben der Kerouac-Lektüre, dem Kassettenspieler und der Caravan-Kassette immer auch eine Blockflöte transportierte. Ey Leute, so sollte dieses Outfit signalisieren, ich gehöre gar nicht hierher, weil ich in Wirklichkeit ein ziemlich abgefahrener Freak bin, der eher als verrückter Hobo in leeren Güterwaggons durch die Staaten reisen und an irgendwelchen abgelegenen Stränden irre Typen treffen müßte, um Haikus zu brüllen, nackt auf Berge zu steigen und - "Yeah, schaff Dich!"- in irgendwelchen Clubs auf dem Saxofon zu improvisieren; so wie ich es übrigens gelegentlich auch am Döser Strand tat. Wenn auch nicht auf dem Saxofon, das ich weder besaß, noch spielen konnte, sondern auf meiner Blockflöte, auf daß die verdammten Spießer hier wenigstens den Hauch einer Ahnung bekämen von dem unbändigen Leben, das ich führen wollte anstelle dieses von den Eltern anberaumte öde Strandleben in fuckin' Cuxhaven-Döse. Noch heute klingen mir die Worte meines Vaters in den Ohren: "Hör bitte mit dem nervtötenden Flötengequietsche auf, die Leute gucken schon alle." So schlurfte die erste Urlaubswoche dahin, und es schien so, daß auch die zweite ähnlich mürbe verlaufen würde, doch dann geschah's. Auf dem Bauch liegend vor mich hindösend in Cuxhaven-Döse, Caravan einmal mehr dicht am Ohr, beobachtete ich eines Tages über die angewinkelte Armbeuge hinweg den Strandaufmarsch einer Großfamilie, die ich vorher nie hier gesehen. Lärmend krakeelte die über die Deichkrone in meine Richtung, machte sich dann samt ihres umfangreichen Strandequipments in unmittelbarer Nähe meines Liegeplatzes breit: einige Erwachsene gehörten dazu, auch etliche Kinder und vor allem dieses unglaublich blonde Mädchen, ungefähr mein Alter, angetan nur mit diesem weithin leuchtenden, türkisfarbenen Bikini - ich war sofort hin und weg. Und als sich wenig später unsere Blicke zum ersten Mal kreuzten und wir uns schon beim zweiten Mal recht ausdauernd in die Augen blickten, sie dann sogar schüchtern herüberlächelte, war ich vollends entflammt. Es folgte die bis dahin schmachtendste Zeit meines noch jungen Lebens. Denn in den folgenden Tagen erschien nun auch jene Familie regelmäßig am Strand und mit ihr die so sehens- und begehrenswerte Ursel, wie sie, das bekam ich bald mit, von ihren Leuten gerufen wurde. Schnell auch war klar, daß sie keine Touristen wie wir, sondern Einheimische waren, darauf jedenfalls ließ das CUX auf den Kennzeichen ihrer Autos schließen, deren tägliche Parkplatzankunft und -abfahrt ich jeden Morgen und jeden Abend von der Deichkrone aus durch's Fernglas meines Vaters observierte. Allein, ich kam nicht an Ursel ran, geschweige denn mit ihr ins Gespräch. Das heißt, ich traute mich nicht, sah einfach keinen hinreichend blamabelfreien Weg, mich ihr in Augen- und Ohrenzeugenschaft ihres Clans zu nähern und zumindest einen Teil von dem mit Ursel zu erleben, was ich mir bereits sehr rosig zusammenträumte. Sie aber unternahm ebenfalls nichts, um die paar Meter Abstand zwischen uns zu überwinden. Trotzdem standen wir immer wieder in wortlosem Kontakt, schenkten uns dann mitunter minutenlange Blicke und fieberten uns bis zum Fastgehtnichtmehr an. Da blitzte und krachte es, wie nur was blitzen und krachen kann zwischen den Geschlechtern. Da knisterte und brodelte, rumorte, bohrte, florte und brannte es derart, daß man sich auf der Gluthitze zwischen uns leicht eine Bratwurst hätte grillen können. So flogen die Tage dahin. Längst war ich nicht mehr eine der verwegenen Kerouac- Figuren aus "Unterwegs", deren letargisch-coole Haltung zu imitieren ich mir noch in der ersten Woche so große Mühe gegeben hatte. Unter dem Anprall der Wirklichkeit dieses blonden und rundum hübschen Mädchens, das sich keine sieben, acht Meter von mir entfernt auf seiner Decke räkelte und gelegentlich herüberblinzelte, war ich zum jugendlichen Pubateur eines Bravo-Fotoromans mutiert. Allerdings zu einem, der sich ganz besonders dämlich anstellte. Der, anstatt zu tun, was getan werden mußte, immer nur wie angekettet herumeierte und es einfach nicht gebacken bekam. Täglich entwarf ich neue und zuweilen recht liebestolle Strategien, wie ich Ursel endlich ansprechen und ihr meine Aufwartung hätte machen können. Zum Eis wollte ich sie einladen, ihr einen Ausflug zum Trampolinsprungplatz antragen, sie wie zufällig am Toilettenhäuschen abpassen. Doch all diese Vorsätze erwiesen sich spätestens im Angesicht der Behimmelten als komplett untauglich, weil ich in meine Planungen stets meine verdammte Schüchternheit mit einzukalkulieren vergaß. So blieb ich, wenn es eigentlich hätte gelten müssen, doch wieder nur wie festgenagelt auf meinem Handtuch kleben, um mich, eingelullt vom Schmelz der Caravan-Musik, weiterhin bloß in dem süßen Schmerz der Sehnsucht zu suhlen, der immer heftiger mir an den Eingeweiden zerrte. Nicht einmal jenen glücklichen Zufall vermochte ich zu nutzen, als der Ball, mit dem Ursel und ihre Geschwister und Cousinen manches Mal herumjuxten, einmal zu mir hergekullert kam. Statt diesen wie ein Geschenk des Himmels aufzunehmen, ihn ihr persönlich zu übergeben und mich so ins Spiel und endlich auch ins langersehnte Gespräch mit ihr zu bringen, schob ich ihn ihr bloß wie beiläufig zurück. Was Ursel mir immerhin mit einem herzesüßen Blick und einem zaghaften "Dankeschön" quittierte; ich hätte mich ohrfeigen können. Und das um so mehr, da es der letzte strandbare Tag dieses Urlaubs war und es ab dem nächsten, grauen Morgen wie aus Eimern schütten und das norddeutsche Wetter auch in den kommenden Tagen überwiegend naß und kühl bleiben würde. Ein Strandleben jedenfalls fand ab diesem Morgen nicht mehr statt, und dabei blieb es, bis der Urlaub vorbei war und wir heim mußten. Ursel aber habe ich bis zu unserer Abreise nicht wieder gesehen. Was dann über mich hereinbrach war die Hölle. Schon auf der Heimreise fraß sich ein Liebesschmerz in mein Herz, wie ich ihn bohrender nie zuvor erlebt und auch hinterher nie wieder auszuhalten hatte. Es war, als würde ich von glühenden Stiften durchstochen und sich zugleich ein stahlkalter Greif um meine Innereien krallen. Zementschwer begann zudem eine Schwermut auf mir zu lasten, die mich um so tiefer in die Rückbank des elterlichen Opels drückte, je weiter der mich von Ursel entfernte. Als wir abends im heimischen Bielefeld eintrafen, war ich nur noch eine einzige, schwärende Wunde, aus der blutrot der Klagesaft schwappte und sich mit dem Sehnsud meiner liebeskranken Seele zu einem alles verbrennenden Gebräu vermischte. Kurzum: ich litt wie wohl kein verliebter Teenager je zuvor gelitten hatte. Gleich einem schlappen Hund schlich ich durch die Gegend, unfähig, noch etwas anderes zu denken, als Ursel, Ursel, Ursel. Keine Frage: ich mußte sie wiedersehen, andernfalls würde ich verrecken. Und die Chancen dafür standen nicht schlecht. Denn da ich weder Ursels Nachnamen kannte noch ihre Telefonnummer und nicht einmal wußte, ob und wo sie in Cuxhaven wohnte, schien eh alles zu spät und mein Schicksal besiegelt. Wochen der allerquälendsten Trübsal schleppten sich so dahin. Trost in dieser Zeit bot mir allein der Ursel-Soundtrack von Caravan sowie ein mittlerweile entwickeltes, wenn auch recht grobkörnig abgezogenes Urlaubsfoto, das meine Mutter am Strand geschossen hatte und an dessen Rand schemenhaft und leider nur schräg von hinten Ursel zu erkennen war. Mir knickten fast die Beine weg, als ich sie da auf dem stark unterbelichteten Zufallschnappschuß sitzend entdeckte: die nackten Beine an den Oberkörper gezogen, angetan mit ihrem gelben Jäckchen, das blonde Haar offen, so sah ich da Ursel hinaus auf's abendsonnenrotgefärbte Meer und auf einen dort fahrenden Containerfrachter schauen. Mit etwas Mühe konnte ich Ursels Profil, wenn auch bloß erahnen. Dieses Foto aber wurde mir fortan zum Heiligenbildchen meiner sich mählich ins religiös Wahnhafte steigernden Verliebtheit. Etliche weitere Wochen vergingen, doch der Trenungsschmerz blieb. Unausgesetzt sann ich nach einer Lösung für mein Dilemma. Einzig diese Möglichkeit blieb noch: ich mußte auf Biegen und Brechen nach Cuxhaven und mich vor Ort auf die Suche nach Ursel begeben. Alles andere hatte nach meinem juvenilen Ermessen keinen Zweck. Immer mehr reifte dieser Plan. In den Herbstferien sollte es los gehen. Schon waren die Tramproute nach Cuxhaven und die Übernachtungsmöglichkeiten in der örtlichen Jugendherberge ausgekundschaftet. Auch hatte ich heimlich mein Sparbuch um seinen allerdings bescheidenen Inhalt erleichtert, dazu, noch heimlicher, einige Scheine aus Mutters Haushaltskasse stibitzt. Am ersten Tag der Herbstferien brach ich auf, stand schon morgens an einer Ausfallstraße Richtung Norden. Gegen Mittag war ich wieder zu Hause. Denn das erste Auto, das hielt, war ein Streifenwagen der Polizei. Dessen Besatzung erschien ein trampender 15jähriger, der sich nur mit einem Jugendherbergsausweis ausweisen konnte, einfach zu suspekt. Mein Vater holte mich von der Wache ab. Ich bekam verschärften Stubenarrest, nicht zuletzt auch wegen des Geldes, das ich meiner Mutter aus dem Küchenschrank geklaut hatte, und wurde für den Rest der Ferien zu einem Schülerjob im Realmarkt verdonnert. Dort lernte ich Biggi kennen und dank ihrer samtenen Zungenküsse begann sich, wenn auch erst mählich, mein Gefühlsleben wieder etwas zu normalisieren. Ganz und gar ging mir aber Ursel nicht aus dem Sinn - trotz Biggi und auch trotz Helga, mit der ich ging, als mir Biggis Küsse zu klebrig wurden. Beständig wühlten die Erinnerungen an den letzten Sommers in mir nach. Immer wieder erlitt ich heftige Rückfälle und ich meinte dann erneut bersten zu müssen vor lauter Sehnen und Zehren nach Ursel. Daran konnte auch Helgas ältere Schwester Bettina nichts ändern, der ich im frühen Sommer in einem Busch hinterm Freibad unter die Bluse fassen durfte. In dieser Zeit aber geschah es, das Wunder, von dem ich zwar nie ernsthaft erwartet, aber immer gehofft hatte, daß es irgendwann eintreffen könnte. Entsprechend platt war ich, als es mir fast ein Jahr nach dem Ursel-Sommer so unvermittelt zustieß. Dieses Wunder aber ging so: Eines Morgens im Bett, noch ein wenig dösig vor dem Aufstehen und wie gehabt seit Cuxhaven zum Tagesbeginn die Caravan-Kassette hörend, tauchte wie aus dem Nichts ein weißer Plastikball vor meinem geistigen Auge auf. Es war jener weiße Plastikfußball, welchen einst Ursel und ihre Cousinen am Strand herumgeschubst und zu mir hatten herüberrollen lassen. Deutlich sichtbar aber erblickte ich im Geiste den Schriftzug "Aldag" auf ihm prangen, handschriftlich hingekritzelt, mit einem wasserfesten Filzer oder was weiß ich. "Aldag" stand da. Unübersehbar und so eindeutig zu entziffern wie etwas eindeutiger nicht zu entziffern ist, wenn es einem aus den Tiefenspeichern des Gedächtnisses ins Bewußtsein emporkriecht. Unverkennbar jedenfalls sah ich jetzt diese Botschaft über die Leinwand meines Kopfkinos flimmern: Aldag, und sofort war mir klar: das mußte Ursels Nachname sein. Ich mußte ihn auf dem Ball, als der mich am Strand anrollte, wohl wahrgenommen, dann aber in einer abseitigeren Ecke meines Hirns abgelegt haben. Nun aber hatten sich dessen Chemien neu gemischt und mir diesen so lange verschütteten, aber alles entscheidenden Ursel- Hinweis beschert. Denn das war er, wie ich noch am selben Tag erfahren sollte, nachdem ich in der Bielefelder Hauptpost alle Aldags aus dem Cuxhavener Telefonbuch herausgeschrieben und gleich bei der ersten Nummer, die ich anwählte, Erfolg hatte. Ob ich Ursel sprechen könne, fragte ich forsch, als eine Frauenstimme sich meldete. "Moment!", sagte diese Stimme, dann hörte ich sie in den Hintergrund rufen: "Ursel, Telefon!" Ich lauschte eine Weile in die rauschende Stille der Leitung. Dann hörte ich Schritte nahen und wie krauschelnd der Hörer weiter gereicht wurde und endlich Ursels Stimme: "Ursel." Ich erschrak entsetzlich. Dann begann erst die Telefonzelle, in der ich stand, und anschließend alles andere um mich herum zu schwanken. Ein Schauder durchlief mich zunächst von oben nach unten und dann noch einer in die umgekehrte Richtung. Die Nackenhaare stellten sich mir auf, ich begann am ganzen Leib zu zittern, während etwas wattig in mein Bewußtsein sich schob. Wie aus weiter Ferne vernahm ich erneut Ursels Stimme. "Hallo? Wer ist denn da?" sagte sie und noch einmal, schon etwas ungeduldiger: "Hallo?" Dann legte sie auf. Fritz Tietz