Frag mal die Gemeinde

Seit ich in Helmstorf lebe, nerven mich die rund 11.000 Autos, die täglich das 1.000 Einwohner zählende Dorf im Landkreis Harburg durchpesen. Besonders morgens, wenn sich das Pendlerelend Stoß- an Stoßstange Richtung Hamburg quält und abends wieder zurück, braucht man, um die Fahrbahn zu queren, mitunter Minuten. Obendrein sind die Gehwege teils so schmal, dass einen die LKWs und die kaum minder fetten SUVs mit nur wenigen Zentimetern Abstand passieren. In der Kurve am Kriegerdenkmal brechen immer wieder Fahrzeuge aus.

Im April 2022 bat ich die Verkehrsbehörde der Gemeinde Seevetal, zu der Helmstorf gehört, um ein Gespräch über die Verkehrssituation im Dorf. Ihr damaliger Leiter, der mittlerweile verstorbene Dirk der Horst, und sein Kollege Ron Gauger, Leiter der Ordnungsabteilung, gewährten mir dazu über eine Stunde ihrer Zeit. Meine Fragen hatte ich ihnen zuvor zukommen lassen. 

Das Interview, das ich im Rahmen der Recherche zu meinem Radiofeature "Zu viele, zu schnell – Vom Widerstand gegen das Kfz im ländichen Raum" führte, habe ich, etwa um die Hälfte gekürzt und behutsam redigiert, in die hier vorliegende Form gebracht.
Eine Straße in der Dämmerung, nasse Fahrbahn, etliche Kfz mit eingeschaltem Licht, auf dem Gehweg eine umgefahrene Sicherheitsbake.
Die Ortsdurchfahrt der L 213 in Helmstorf, Höhe Feuerwehr.
Fritz Tietz
Bei der letzten Verkehrsdatenerhebung 2018 fuhren bis zu 11.600 Fahrzeuge täglich durch Helmstorf. Die ermittelte Durchschnittsgeschwindigkeit lag bei 48 km/h, der V85-Wert bei 54. Gemessen wurde auf Höhe der Bäckerei, wo es wegen des Kundenverkehrs häufig zu Stockungen und Langsamfahrten kommt? Wieso lag der Messpunkt an dieser Stelle?

Ron Gauger
Grundsätzlich versuchen wir uns ein Bild zu machen, wenn die Polizei uns ein erhöhtes Unfallgeschehen mitteilt. Wir messen darüberhinaus, wo wir konkrete Beschwerdelagen haben, um dem subjektiven Eindruck mit objektiven Zahlen begegnen zu können. Und wir haben in dem Bereich eine solche Beschwerde gehabt.

Fritz Tietz
Inwieweit können Sie ausschließen, dass auf den übrigen Ortspassagen die Geschwindigkeiten nicht höher lagen?

Ron Gauger
Können wir nicht, weil wir dort bisher keine Beschwerdelagen hatten.

Dirk ter Horst
Wenn man's genau wissen wollte, müsste man an verschiedenen Stellen messen. Aber die Gemeinde ist groß, und wir haben nur ein Gerät. Im Übrigen, das Phänomen, dass innerhalb geschlossener Ortschaften der Verkehr sich verzögert durch abbiegende, einmündende, wartende, parkende Fahrzeuge, das haben Sie ja im Prinzip überall.

Fritz Tietz
Überall gehen aber auch Menschen gelegentlich über die Straße. In Helmstorf zum Beispiel an der Bushalte 100 Meter weiter, da wird, nicht nur nach meinem Eindruck, wesentlich schneller gefahren als 54 km/h. Es gibt Eltern, die ihre Kinder deswegen nicht alleine zum Bus lassen. Also eine Gefahrenlage wird auf jeden Fall wahrgenommen, deswegen fragte ich nach den objektiven Werten, die Sie nicht haben … Nächste Frage: Laut Kraftfahrt Bundesamt waren in der Gemeinde Seevetal im Januar 2021 mit circa 35.600 Kraftfahrzeugen rund 5.300 mehr gemeldet als noch vor zehn Jahren. Das ist ein Zuwachs von ca. 17,5 Prozent, bei allerdings gleich gebliebener Einwohnerzahl von etwa 42.000. Welche Schlussfolgerungen zieht die Gemeinde daraus für die Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität ihrer Bürger?

Dirk ter Horst
Was Sie ansprechen, zielt letztendlich auf eine Erhöhung der Verkehrsdichte in ganz Deutschland ab. Wir als Gemeinde haben nicht die Möglichkeit, diese Zahl zu senken. Und lassen Sie mich eins noch dazu sagen: Jeder, der an einer Landesstraße wohnt, muss mit diesem Verkehr ein Stück weit leben. Das ist eine unbequeme Wahrheit, und ich hab mir überlegt, ob ich das so sage, aber es nützt ja auch nichts, da drum herum zu reden. Vom Gesetzgeber her sind Bundesstraßen, Landesstraßen und Kreisstraßen bestimmt, den überörtlichen Verkehr aufzunehmen. Dazu ist die Landesstraßenbauverwaltung verpflichtet, die Straßen so zu unterhalten, dass man sicher und, jetzt kommt's, auch zügig durchfahren kann. Das ist die gesetzliche Aufgabe, und an die sind wir gebunden.

Fritz Tietz
Ich hatte eher auf Schlussfolgerungen für die Lebensqualität gehofft. Es gibt also für die Gemeinde keine Möglichkeit, den Verkehr zu verringern? 

Dirk ter Horst
Wir können nicht sagen, was weiß ich, durch Helmstorf fahren jetzt nur noch 10.000 Fahrzeuge und der 10.001. darf nicht mehr. Wenn jemand möchte, dass dort weniger gefahren wird, dann führt das logischerweise dazu, dass diese Fahrten auf anderen Straßen stattfinden. Das heißt, Verdrängung. In Nebenstraßen. Oder auf eine Umgehungsstraße. Was der Gesetzgeber aber beides nicht will.

Fritz Tietz
Gäbe es nicht die die Möglichkeit, den Durchgangsverkehr unattraktiver zu machen, so dass die Leute weniger fahren oder den ÖPNV nutzen, der dann vielleicht auch häufiger verkehrt?

Dirk ter Horst
Vom Gesetzgeber her sind Bundesstraßen, Landesstraßen und Kreisstraßen bestimmt, den überörtlichen Verkehr aufzunehmen. Dazu ist die Landesstraßenbaubehörde verpflichtet, die Straßen so zu unterhalten, dass man sicher und, jetzt kommt's, auch zügig durchfahren kann. Das ist die gesetzliche Aufgabe, und wir als Gemeinde müssen diesem gesetzlichen Auftrag folgen. 

Fritz Tietz
Verkehr besteht aber nicht nur aus Autos, dies nur als Anmerkung. Und noch mal zu den Messungen: Ihr Sachbearbeiter sagte mir, dass selbst ein innerorts ermittelter V85-Wert von bis zu 61 km/h in der Regel kein Grund ist, tempomindernde Maßnahmen zu veranlassen. Laut STVO sind jedoch innerorts – und zwar selbst “unter günstigsten Umständen”  – nur 50 km/h zulässig. Deswegen meine Frage: Wie viele Fahrzeuge waren insgesamt schneller als 50 km/h bei der letzten Messung?

Ron Gauger
Leider haben wir die Rohdaten nicht mehr. Wir haben die Durchschnittsgeschwindigkeit und den V85-Wert. Und wir haben die maximal gefahrene Verkehrsgeschwindigkeit, die bei 82 lag. 

Fritz Tietz
Die auch nicht in die Statistik einfließt …

Ron Gauger
V85 besagt: Dieser Wert ist von 85 Prozent der Verkehrsteilnehmenden eingehalten worden. Wie viele sich von den fünfzehn Prozent, die drüber waren, bei 80 km/h befunden haben oder bei 55, das können wir nicht auswerten bei dieser speziellen Messung.

Fritz Tietz
Wenn jemand mit 82 durchs Dorf fährt, von dem geht ja eine konkrete Gefährdung aus, während eine Durchschnittsgeschwindigkeit, von der wird man ja nicht konkret bedroht. Man wird von einzelnen Fahrzeugen bedroht, die zu schnell sind.

Ron Gauger
Jetzt will ich mal zurück fragen: Wie wollen Sie ausschließen, dass jemand mit 100 durch eine Ortsdurchfahrt fährt?

Fritz Tietz
In dem man konsequent das Tempo misst.

Dirk ter Horst
Meinen Sie messen oder kontrollieren?

Fritz Tietz
Kontrollieren!

Dirk ter Horst
Wir haben nicht die Möglichkeit, zu kontrollieren, in dem Sinne, dass wir Ordnungswidrigkeitsverfahren einleiten oder Verwarngelder erheben.

Fritz Tietz
Aber sie können solche Kontrollen erwirken.

Ron Gauger
Wenn wir bei unseren Kontrollmessungen, zu denen wir rechtlich nicht verpflichtet sind, die wir für uns vornehmen, um greifbare Werte zu erhalten, wenn die uns zu erkennen geben, dass regelmäßige Verstöße im höheren Bereich stattfinden, dann geben wir das an die Polizei weiter. Dann messen die auch. Tun das aber nicht permanent.

Fritz Tietz
Die Gemeinde könnte also einen gewissen Druck aufbauen, um die Behörden dazu zu bringen, häufiger und technisch umfassender zu messen.

Dirk ter Horst
Es gibt kreisweit ungefähr zehn Blitzer an verschiedenen Hauptverkehrsstraßen. Dazu hat der Landkreis – wir als Gemeinde haben das sogar gefordert – einen sogenannten Blitzer Anhänger angeschafft. Das ist einer für 250.000 Einwohner und für ein Gebiet von 1000 Quadratkilometer oder so. Auf den können wir einen gewissen Einfluss nehmen. Der steht dann in der Regel ein paar Tage an einem Standort. Dann kommt er woanders hin. Und dann gibt es noch die Laserpistolen und zwei oder drei so unauffällige Fahrzeuge, aus denen auch geblitzt wird. Der Landkreis hat ungefähr 200 regelmäßige Messstellen. Da können Sie sich vorstellen, wie oft da gemessen wird. Das ist die Situation, vor der wir als Gemeinde stehen. Natürlich fordern wir mehr. Aber eine flächendeckende Verkehrskontrolle ist absolut unrealistisch.

Fritz Tietz
Okay. Nächste Frage: Wenn ein Auto aus Tempo 50 km/h abgebremst wird und an einer Linie zum Halten kommt, wie schnell ist es an eben dieser Linie, wenn es beim selben Abbremspunkt 60 hm/h drauf hat?

Dirk ter Horst
Da gibt es mathematische Berechnungen, aber die helfen uns nicht weiter. Man wird nicht erreichen können, dass immer nur 50 gefahren wird. Da können wir nur an die Vernunft der Autofahrer appellieren.

Fritz Tietz
Wie erklären Sie dann einem Fahrschüler, dass er bei geringen Tempoverstößen durch die Prüfung rasselt, er aber als Führerscheininhaber mit bis zu 61 km/h durch die Tempo-50-Zonen der Gemeinde fahren darf?

Dirk ter Horst
Wir alle wissen, dass wir innerhalb geschlossener Ortschaften nicht schneller als 50 fahren dürfen. Das lernt jeder in der Fahrschule. Es ist aber schlicht und einfach nicht möglich. Bitte berücksichtigen Sie: Wir haben Busse auf der Landesstraße. Wir haben Schwertransporte. Das heißt, die Straßen müssen eine bestimmte Breite haben. Und dass dann vielleicht ein Kleinwagen oder ein Motorrad auch mit erheblich mehr als 50 km fährt, das auszuschließen, ist nicht machbar. Diese Forderungen sind unrealistisch. Ich muss das so deutlich sagen.

Fritz Tietz
Nach einem vom Gemeinderat beschlossenen Lärmaktionsplan liegen in Helmstorf erhebliche Lärmbelastungen vor. Zu deren Abmilderung wird darin u.a. die Einführung von Tempo 30 in der Ortsdurchfahrt empfohlen. Welche Schritte hat die Gemeinde unternommen, um die Landesbehörden dazu zu ermuntern?

Dirk ter Horst
(Schmunzelt) … zu ermuntern … Ich lese Ihnen mal die Stellungnahme des zuständigen Straßenbaulastträgers zu dem vorgeschlagenen Tempo 30 in der Lärmaktionsplanung vor: 

“Verkehrsbeschränkungen aus Lärmschutzgründen sind gemäß Paragraph 45 StVO nur dort möglich, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere dürfen Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in Paragraph 45 StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Auf Hauptverkehrsstraßen hat hingegen das Interesse des fließenden Verkehrs besonderes Gewicht, weil diese Straßen ihre Aufgabe, Verkehr auch über längere Entfernungen zügig abzuwickeln und das übrige Straßennetz zu entlasten, nur erfüllen können, wenn möglichst wenige Verkehrsbeschränkungen vorhanden sind.” 

Das ist die Aussage des Eigentümers der Landesstraße, und an die sind wir gebunden.

Fritz Tietz
Aber warum beschließt dann ein Gemeinderat sowas?

Dirk ter Horst
Die Verpflichtung zur Lärmaktionsplanung folgt aus der Umgebungslärmrichtlinie der europäischen Union, die bestimmten Kommunen vorschreibt, so eine Lärmaktionsplanung vorzunehmen. 
Die Ortsdurchfahrt in Helmstorf in Höhe des Kriegerdenkmals: Eine enge Rechtskurve mit drei Autos auf der Fahrbahn, schmaler teils laubbedeckter Gehweg, auf einer Seite begrenzt durch eine Mauer aus Feldsteinen, im Hintergrund rot-weiße Poller als Abgrenzung zwischen Gehweg und Straße.
Die Kurve am Kriegerdenkmal.
Fritz Tietz
Der Verkehr muss also fließen. Das hat Vorzug vor allen gesundheitlichen Beeinträchtigungen…

Dirk ter Horst
Die Aussage, die ich eben gerade vorgelesen habe, gilt für alle klassifizierten Straßen von Flensburg bis zum Bodensee. Das ist keine Lex Helmstorf.

Fritz Tietz
Trotzdem wird von der Gemeinde so ein Lärmaktionsplan verabschiedet, den Sie der Landesstraßenbaubehörde vorlegen, kriegen dort diese Antwort und scheinen sich dann damit zufrieden zu geben.

Dirk ter Horst
Wir machen es mal anders: Ihre Frage impliziert, dass mit Tempo 30 weniger Lärm, weniger Abgase, weniger Emissionen produziert werden. Wer sagt Ihnen das? Dafür gibt es im Moment den Modell Versuch Tempo 30 des Landes Niedersachsen, an dem wir mit einer Straße teilnehmen. Mit diesem Modellversuch will das Land eine Antwort auf die Frage haben, wie sich die Verringerung einer Geschwindigkeit auf die Emissionen auswirkt.

Fritz Tietz
Müssen Sie nur beim Bundesumweltamt nachschauen, da wurden diese Untersuchungen längst angestellt. Es gilt als erwiesen, dass Tempo 30 sowohl den Lärm vermindert als auch die Abgasmenge.

Dirk ter Horst
Dann müssten ja eigentlich mit Tempo 20 noch weniger Emissionen erzeugt werden. Und mit Tempo zehn noch weniger. Und mit Tempo drei noch weniger. Ja? Aber das geht leider nicht. Wir haben innerorts Tempo 50. So. Es werden immer wieder Einzelfälle und Beispiele herausgehoben, wo es mal unter der Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls geklappt hat, von Tempo 50 abzuweichen. Das ist aber nur ein Bruchteil aller Ortsdurchfahrten. Solche Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass in Helmstorf so außergewöhnliche Verkehrsverhältnisse sind, die liegen uns nicht vor.

Fritz Tietz
Neben der bisher einzigen Bettelampel sind Ihrer Auskunft nach keine weiteren gesicherten Überwege in Helmstorf angezeigt. Die dafür notwendigen Fußgängerquerungswerte würden nie erreicht. Aber wie aussagekräftig sind solche Erhebungen, wenn nicht auch Vergleichsmessungen stattfinden? Oder anders gefragt: Sind diese Werte jemals unter fußgängerfreundlichen Umständen erhoben worden, indem zum Beispiel vorher temporäre Fahrverbote oder konsequente Tempokontrollen angeordnet wurden?

Ron Gauger
Vielleicht muss ich mal aufklären, dass die Querungszahl nicht durch Zählung, sondern durch Beobachtung als zu gering angenommen wurde. Aber wir werden nicht mehr Querungen haben, wenn die Ziele sich nicht verändern. Also, man geht ja nicht einfach so über die Straße, sondern weil man zum Bäcker rüber will oder einen Nachbarn besuchen möchte. Darauf verzichtet man ja nicht, weil LKWs durch den Ort fahren. Sondern man geht sie dann eben unter schlechteren Bedingungen, ohne Querungshilfe. Aber man geht sie. Die Option, dass wir Verkehre rausnehmen, um da eine attraktivere Querungsmöglichkeit zu schaffen, erschließt sich mir nicht.

Fritz Tietz
Sie persönlich schreckt der Verkehr vielleicht nicht ab. Aber würden Sie auch Ihre Kinder alleine zu deren Freundinnen schicken, wenn die dafür diese Straße überqueren müssten? Ich hab ein paar Eltern im Dorf gefragt, und die machen das nicht. Oder anderes Beispiel: Mein Schwiegervater. Wenn der zeitlebens mal wohin wollte im Ort, ist der immer mit dem Auto gefahren. Außer beim Schützenfest, wenn er sich mal die Kante geben wollte. Ansonsten war das völlig abwegig für ihn, an der Straße lang zu Fuß zu gehen.

Ron Gauger
Also wirklich, Herr Tietz: Wenn man innerhalb eines Ortes auf das Auto zurückgreift, weil man sich zu unsicher fühlt, eine Straße zu überqueren – wir reden hier nicht von der Autobahn – dann muss man sein eigenes Verhalten vielleicht hinterfragen. Ich würde lieber den Umweg über die Fußgängersignalbedarfsanlage gehen anstatt aufs Auto zurückzugreifen.

Fritz Tietz
Ich soll also, wenn ich zum Bäcker will, erst die 500 Meter runter zur Ampel, dort über die Straße und auf der anderen Straßenseite die 500 Meter wieder hoch gehen? Und nach dem Einkauf die gleiche Tour zurück?

Ron Gauger
Meinen Kindern, die ich nicht habe, würde ich immer empfehlen: Nehmt die Ampel und achtet trotzdem auf die Autofahrer, ob sie anhalten. Immerhin gibt’s da eine Querungsmöglichkeit, die wir nicht in allen Orten haben. Wenn man seine Kinder dahingehend erzieht, dass sie die Straße nur dann queren, wenn man ein gutes Gefühl hat, dann ist das an gut einsehbaren Stellen auch möglich. Aber halt dann, wenn eine Lücke sich auftut. 

Fritz Tietz
Ein Nachbar, vor 43 Jahren in Helmstorf geboren, erzählte, dass er als kleiner Junge die elterliche Anweisung bekam, die Straße wirklich erst dann zu überqueren, wenn absolut kein Auto zu sehen ist. So hätte er teilweise eine Viertelstunde, zwanzig Minuten da gestanden. So viel zur Lebensqualität.

Dirk ter Horst
Bei allem, was wir als Verkehrsbehörde machen, unterliegen wir einer strengen Normierung. Das sieht der Bürger gar nicht. Der sagt, könnt ihr da nicht so ein Schild hinschrauben? Aber so einfach ist es nicht. Hinter jedem Verkehrszeichen steckt eine Fülle von Vorschriften. Und gerade bei Zebrastreifen, die ja dem Fußgänger einen Vorrang einräumen, legt der Gesetzgeber ganz hohe Hürden an. Nein, es ist schlicht und einfach nicht realistisch, an einer Hauptverkehrsstraße alle 100 Meter eine gesicherte Fußgängerquerung zu haben. Das geht nicht.

Fritz Tietz
Warum nicht? 

Dirk ter Horst
Das habe ich versucht Ihnen deutlich zu machen.

Fritz Tietz
Ich frag ja nur, weil im Umkehrschluss heißt das doch: Damit das Auto nicht halten muss alle 100 Meter

Dirk ter Horst
Selbst wenn wir jetzt wider alle Vorschriften für die Familie Tietz einen Fußgängerüberweg machten. Was würde denn dann passieren? Das Straßenbauamt Lüneburg kennt sehr genau die Vorschriften. Und im ungünstigsten Fall kommt die Aufsichtsbehörde und sagt, was ihr hier anordnet, ist rechtswidrig. Das unterlasst ihr bitte.

Ron Gauger
Vielleicht darf ich dazu noch ausführen. Wenn wir seinerzeit die Beschwerdelage nicht gehabt hätten, dann hätten wir in Helmstorf keinerlei Messung durchgeführt. Denn vom Unfallhergang ist die gesamte Ortsdurchfahrt sehr unauffällig. Wir hatten in den letzten drei Jahren nur einen Fall, wo die Geschwindigkeit unfallursächlich war.

Fritz Tietz
Als Anwohner geht man aber nicht von gelegentlichen Unfällen aus, sondern von der permanenten Bedrohungs- und Belästigungslage. Die aber von den Behörden als gegeben angesehen wird. Wenn man da wohnt, hieß es auch vorhin, muss man halt damit leben.

Dirk ter Horst
Die Frage ist letztlich, wie man mit diesem subjektiven Sicherheitsgefühl umgeht. Diese Antwort hat uns auch der Gesetzgeber abgenommen, indem er sagt: Es muss für jeden Landkreis bei der Polizei einen Sachbearbeiter geben, dessen einzige Aufgabe darin besteht, die Verkehrsunfälle zu erfassen und zu bewerten. Diese Statistik ist uns vom Gesetzgeber als einzige Messlatte dafür vorgegeben, ob eine Straße objektiv gefährlich ist. Ich kann verstehen, dass es da ein subjektives Unsicherheitsgefühl gibt. Aber  für unsere Entscheidung zählt nur die Unfallstatistik. Und die ist in Helmstorf sauber.

Fritz Tietz
Nach Angaben eines Helmstorfer Jagdpächters werden auf den innerörtlich eineinhalb Kilometern der Landesstraße rund 20 Tiere jährlich durch Autoverkehr getötet. Was tut die Gemeinde zum Schutz dieser Tiere – aber auch der Autofahrenden vor solchen Wildunfällen? 

Ron Gauger
Also ich habe einen Wert von den zurückliegenden Jahren, der pendelt bei 200 Wildunfällen im gesamten Bereich des Kommissariats Seevetal, das auch noch die Gemeindegebiete Rosengarten und Neu Wulmstorf mit bedient. Dass jetzt davon zehn Prozent ausgerechnet in der Ortslage Helmstorf sind, würde ich als nicht schlüssig erachten. Aber natürlich können wir auch hier keine 100-prozentige Sicherheit, auch nicht für den tierliebenden Autofahrer einräumen. Dann müsste er sein Auto stehen lassen. Damit schädigt er die wenigsten Tiere.

Fritz Tietz
Zur Verdeutlichung: es ging dem Pächter nicht nur um die jagdbaren Tiere, sondern er sprach auch von Igel, Eichhörnchen oder dem jungen Schwan, der da letztes Jahr neben der Straße lag. Und es gibt auch viele Tiere die nicht erfasst werden nach meinem Eindruck, ich jedenfalls passiere ständig Tierleichen.

Dirk ter Horst
Aber die Antwort der Gemeinde wäre dann das Schild: Vorsicht Wildwechsel. Nicht etwa eine Verringerung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Fritz Tietz
Letzte Frage: Die Einsamkeitsforschung sieht eine Ursache für die verbreitete Einsamkeit in unserer Gesellschaft darin, dass Städte, Stadtteile und Dörfer immer weniger so gebaut sind, dass es alltägliche Begegnungen auf den Straßen geben kann. Neben Freundschaften und gesellschaftlicher Zugehörigkeit hätten aber gerade solche beiläufigen Kontakte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Wohlbefinden der Menschen. Eine Anbindung an den öffentlichen Raum, an dem man gefahrlos teilhaben kann, seien wichtige Faktoren gegen die Vereinsamung. Frage: Welche Maßnahmen ergreift die Gemeinde Seevetal, damit die Helmstorfer ihre Hauptstraße als unbelästigten Lebensraum für unbehelligte  menschliche Begegnungen und nicht mehr nur als reine Kfz-Piste erleben müssen?

Dirk ter Horst
Tja. Herr Tietz, da sprechen Sie mir aus der Seele. Ich bin an der B 3 großgeworden, und mein bester Freund wohnte auf der Straßenseite gegenüber. Das war nicht immer einfach, mich mit dem zu treffen. Wir sind uns doch alle im Klaren darüber: Eine solche Hauptverkehrsstraße durchschneidet einen gewachsenen Ort. Wenn man da hinzieht, muss man auch ein Stück weit akzeptieren, dass diese Straße vorhanden ist. Aber dafür wohnen Sie fast unmittelbar an der Hamburger Landesgrenze, zwei Auto Minuten von der Autobahnabfahrt entfernt und kommen, so kein Stau ist, in 20 Minuten in die Hamburger Innenstadt. Hier ist jeder gefordert, für sich selber zu entscheiden, wo will ich meinen Lebensmittelpunkt haben.

Fritz Tietz
Das gilt aber auch für jeden Autofahrer, der auf dem Land lebt. Warum kann der nicht 25 Minuten brauchen statt nur 20? Warum kann der nicht auch mal an einem Zebrastreifen oder an einer Bettelampel warten? Warum sollen das ausschließlich die Fußgänger?

Dirk ter Horst
Ich sag noch mal: Es kann nicht sein, dass an jeder Einmündung zu einer Hauptverkehrsstraße eine Fußgängerampel steht, nee, ist nicht realistisch. Tut mir leid. Und es ist auch nicht mit der Gesetzeslage, in Einklang zu bringen. Es kann nicht alle 100 Meter eine Fußgängerampel sein.