Die wahren Härten des Loser-Lebens

Den echten Armen hat er nichts zu sagen: 2010 erschien Wolfgang Herrndorfs großer Außenseiterroman »Tschick«.

Von Fritz Tietz


I.

Lukas*, 14, hat einem Bauern, dem er gelegentlich zur Hand ging, einen seiner Trecker geklaut. Mit von der Diebespartie: zwei Brüder, acht und zehn Jahre alt. Die hätten ihn, so stellte es Lukas hinterher dar, angestiftet, da sie nicht des Bauern Erlaubnis hatten, einen Trecker zu fahren, es aber unbedingt mal wollten. In dem Waldstück angekommen, wohin Lukas das Trumm gelenkt hatte, schwante ihm allerdings, dass er die beiden Kurzen vielleicht doch nicht auf den Bock lassen sollte, und wollte den Traktor zurückbringen. Worauf ihm die Brüder jedoch den Zündschlüssel mopsten und stiften gingen. Lukas fiel darauf nichts besseres ein, als nach Hause zu gehen.

Am nächsten Morgen riefen ihn die Brüder an, ganz aufgeregt. Lukas solle mal schnell in den Wald kommen. Und siehe da: Der Trecker „parkte“ nun ein paar Meter weiter - direkt an einen Baum gesetzt. Mit eingedrückter Schnauze und Öl, das aus der Vorderachse leckte. Nicht sie seien schuld, so die Brüder, sondern ein unbekannter maskierter Mann, der plötzlich im Wald aufgetaucht sei, um sie mitsamt dem Trecker zu entführen, den er dabei gegen den Baum gebrettert habe. Danach habe er sich aus dem Staub gemacht.

Lukas glaubte ihnen zwar kein Wort. Aber was tat der arme Junge? Ohne endlich jemandem von dem Schlamassel zu erzählen, ging er zu dem Bauern, um ihm bei der Hofarbeit zu helfen. Als der irgendwann den Verlust des Treckers bemerkte, gab sich der Junge ahnungslos. Ja, er machte sich sogar mit auf die Suche und sagte nicht mal was, als sie die havarierte Maschine fanden. Erst als am nächsten Tag zwei Polypen seiner Mutter eröffneten, dass ihr Sohn nach Aussagen von Zeugen – natürlich die Brüder – den Trecker geklaut habe, legte er ein Geständnis ab.

II.

Wer Wolfgang Herrndorfs Tschick gelesen hat, könnte längst eine Parallele zwischen Lukas' Erlebnis und der Romanhandlung gezogen haben. In der geht es um Maik und Tschick, zwei Gymnasiasten, achte Klasse, beide gelten als Außenseiter. Tschick noch etwas mehr, weil ihn selbst Outcast Maik ein Asi und Arschloch nennt. Aber das ändert sich. Maik, der aus einem gut bestallten, jedoch sozial schwer gestörten Elternhaus stammt, und Tschick, ein in eher armseligen Verhältnissen aufwachsender Russlanddeutscher, werden – nicht zuletzt aufgrund der gemeinsam erlittenen Demütigungen durch die Mitschüler  – zu Freunden. Und dann geht es los: Mit einem geklauten Lada in den Sommerferien  in die Walachei, so jedenfalls lautet das von Tschick ausgelobte Reiseziel, und so erleben sie fast rauschhaft eine kleine Sommersause, die abrupt an einem Schweinetransporter endet.

Dank der schnörkel- und gedönsfreien Sprache, mit der Herrndorf erzählt, hat Tschick eine Menge Leute in einen regelrechten Lesesog gezogen – oder auch Vorlesesog, wie ich für mich sagen muss, denn ich habe mir das Hörbuch vorlesen lassen. Von Hanno Koffler, der das sehr gut macht.

Auch Lukas sollte Tschick eigentlich kennen. Ungefähr ein Jahr vor seiner Treckeraffäre hatte ich ihn kurz mal reinhören lassen, als er bei uns war. Da ich wusste, dass Lukas höchstens mal was liest, wenn ihn seine Lehrerinnen dazu zwingen, hielt ich das mit dem Hörbuch für eine gute Idee. Ich hoffte, dass er nach den ersten Kapiteln genügend angefixt sein würde, und er dann aus freien Stücken das ganze Buch (das ich ihm dann schenken wollte) zu Ende lesen würde.

Tatsächlich lauschte Lukas eine Weile brav in die Kopfhörer. Allein, irgendein Anzeichen von Interesse oder gar Begeisterung spiegelten sich nicht in seinem Gesicht. Im Gegenteil. Er wirkte zunehmend angeödeter. Also erlöste ich ihn bald wieder von meinen bildungsbürgerlichen Anstrengungen, und er ging, sichtlich erleichtert, seiner Wege. Erst da bemerkte ich, dass der Playmodus meiner Audio-App auf Shuffle gestellt war. Ach herrje. Und der lektüreungeübte Junge hatte offenbar nicht mal bemerkt, dass er so etliche Kapitel in einer völlig ungeordneten Reihenfolge gehört hatte.

Dass Lukas von Tschick inspiriert war, als er sich mit dem Trecker vom Acker machte, kann man also getrost vergessen. Aber was wäre gewesen, wenn doch? Wenn er nun die Kapitel in der richtigen Reihenfolge gehört hätte? Hätte er dann den Trecker nicht nur geklaut, um zwei kleine Jungs zu beeindrucken, sondern, so wie Tschick und Maik es vormachen, seine ganze Klasse? Mit einer knatternden Schulhofrunde während der Großen Pause samt einem perfekten Rückwärtsmanöver auf einen der Lehrerparkplätze. Nun ja. Reine Spekulation. Und eine viel zu hohe Erwartung an die Wirkmacht von Literatur.

III.

Tschick, der Film, war, jedenfalls bei der von uns besuchten Vorführung, in einer problemlos nachvollziehbaren Szenenabfolge zu sehen. Und Lukas war mit im Kino. Wir hatten ihn kurz nach seiner Treckeraffäre dazu eingeladen, weil wir dachten, bestimmt bringt ihm das was: Zu sehen, was die Jungs mit ihrem geklauten Fahrzeug so alles anstellen. Und vielleicht würde er ein paar Schlüsse für sich daraus ziehen.

Und immerhin: Ganz anders als beim verqueren Hören, zeigte sich Lukas von der in bunten Bewegtbildern erzählten und mit flotter Musik unterlegten Geschichte sichtlich beeindruckt. Von dem ganzen Kinogeschehen sowieso, denn allzu häufig ist ihm als Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die nach jahrelanger Hartz-IV-Abhängigkeit erst seit kurzem wieder einen kleinen Job hat, der Besuch eines Kinos inklusive Popcorn und Limo nicht vergönnt gewesen. Und auch, dass wir hinterher was essen gingen, hat ihm augenscheinlich des gesegneten Appetits, mit dem er seinen Burger verputzte, gefallen. 

Im Restaurant war ihm zu entlocken, dass er den Film vor allem deshalb cool fand, weil er und Maik Jahrgang 2002 sind. Viel mehr war aber nicht aus ihm herauszubekommen. Dabei hätte mich zum Beispiel interessiert, ob er realisiert hat, dass, wie's der Film thematisiert, ein Vierzehnjähriger durchaus strafrechtlich belangt werden kann für so was wie Treckerklau. Ich hielt es allerdings für angebracht, ihn an diesem für ihn so selten schönen Abend nicht direkt darauf zu stoßen.

IV.

Dass Lukas das einzige Kind einer alleinerziehenden Mutter ist, die sie beide eher schlecht als recht durchbringt, sieht man Lukas auch an. Seine Klamotten sind überwiegend second hand, sein Fahrrad ein olles schweres Damenrad und sein Handy ein Opfermodell mit Spiderdisplay und ständig verbrauchtem Guthaben. Dazu ist Lukas ziemlich dick. Und da sie in einer Hütte am schattigen Waldrand leben, deren immer feuchter werdende Wände sie mit der Ofenheizung partout nicht mehr trocken bekommen, müffelt er immer ein bisschen wie feuchter Hund.
 
Lukas gilt denn auch unter Gleichaltrigen als ziemlich out. Nichts an ihm ist cool nach dem Wertekanon der soliden weißen Mittelschicht, der seine Mitschüler überwiegend angehören. Interesse an Lukas bekunden sie nur, indem sie ihn wegen seiner Fettness und Armut foppen. Bis auf ab und zu mit dem noch dickeren Bernd trifft er sich mit niemandem aus seiner Klasse. Fast ist man versucht zu sagen, dass sich mit Lukas' Status als Außenseiter eine weitere Anknüpfung an die Hauptfiguren in Tschick auftut – aber eben nur fast. Deren Außenseitertum ist nämlich um einiges abgefahrener und vielschichtiger beschrieben. Oder um diesen Aspekt aus der Warte des Autors und seines Verlages zu beurteilen: eine Romanfigur wie Lukas würde sich niemals so erfolgreich verkaufen, wie das mit Maik und Tschick gelang. Ihr Charisma, ihre Cleverness, ihre Intelligenz und einiges mehr von dem, was sie für das Millionenpublikum erst so grundsympathisch und identitätsstiftend machte, geht Lukas völlig ab.  

Wie Maiks Mutter hat Lukas’ Mutter ein erhebliches Alkoholproblem. Im Gegensatz aber zu dem offensiv und fast glamourös gelebten Suff der Romanmutter tritt der Alkoholismus in Lukas' Realität um einiges hässlicher in Erscheinung.

Seine Mutter spielt jedenfalls nicht besoffen Tennis oder wirft Möbel in den Pool. Sie besucht auch keine Beautyfarmen, wie Maiks Mutter die regelmäßigen Entgiftungskuren scherzhaft nennt. Lukas' Mutter trinkt meistens allein zu Hause. Wenn man sie nach 20 Uhr anruft, lallt sie. Und wenn man sie morgens trifft, riecht man ihre Fahne. Nur beim Tanz in den Mai hat sie sich einmal vor der versammelten Dorföffentlichkeit so volllaufen lassen, dass sie schon vor Einbruch der Dunkelheit von zwei Helfern heim gebracht werden musste. Und alle haben sich köstlich amüsiert, aber auch gesehen, wie Lukas, damals vielleicht zehn, elf, verlegen grinsend hinter den Männern hertrottete, die seine Mama abschleppten. Sie habe die ganze Nacht neben dem Lokus gelegen, hat er anderntags berichtet. 

Gern hätte ich nach dem Kino gewusst, wie es Lukas mit diesen beiden Alkoholikerinnenversionen so ging. Ob ihm überhaupt Übereinstimmungen zwischen seiner Realität und der fiktiven Handlung aufgefallen waren?

V.

Könnte natürlich sein, dass sich Lukas zwar gut unterhalten, sonst aber überhaupt nicht angesprochen fühlte von diesem Sommermärchen. Weil Tschick vielleicht nur eine, die wahren Härten eines Loserlebens beschönigende Geschichte ist, in die sich einer, der in echt mit Armut und Scham zu kämpfen hat, nicht wieder erkennen kann. Weil es sich bloß um eine romantisch verklärende Erzählung handelt, die eher die Sehnsüchte von Bildungsbürgern triggert als die von einem Jungen, der noch nicht mal von einem Ausbruch aus Konvention und Unfreiheit träumt, geschweige denn einem Aufstand oder einer Rebellion, weil ihm sämtliche Voraussetzungen dafür fehlen. Vom Geld für Bücher oder Kinotickets gar nicht erst zu reden.

Fritz Tietz


*Lukas heißt in Wirklichkeit anders